Lavendelfelder

Aus dem Leben einer verwirrten Ameisenmutter.
Sonnenuntergang über einem Lavendelfeld: Mamablogger VlikeVeronika erzählt über den Orientierungsverlust von Ameisen in Lavendelfeldern

[erstmals veröffentlich am 08.05.2017 auf veronicard, übersiedelt auf www.vlikeveronika.com am 02.05.2019]

Aus dem Leben einer Mama.

An Euch, die Ihr zerrissen seid.
An Euch, die alles geben und doch nie genug sind.
An Euch, die Ihr das Beste wollt und dabei das Schlimmste in Euch selbst entdeckt.
An Euch, die Ihr Euch fragt, ob Eure Kinder bei einer anderen Mutter nicht besser aufgehoben wären.
An Euch, die Ihr das Leben der Anderen auf „Sozialen“ Medien verfolgt und Euch fragt, warum Ihr es nicht so perfekt habt, ob Ihr etwas verpasst und was Ihr falsch gemacht habt.

Ihr seid umgeben von Müttern, die denselben Kampf führen.

Letzte Woche habe ich Lavendel gepflanzt. Ich habe keinen grünen Daumen, weshalb ich das Merkblatt dazu besonders aufmerksam gelesen habe. Letzten August habe ich drei Lavendelpflanzen gekauft. Drei Wochen später waren sie alle tot. Diesmal will ich alles richtig machen.

Es war eine Randnotiz zur Wirkung der Pflanze, die mich zum Nachdenken brachte: Scheinbar irritiert der Duft des Lavendels Ameisen. Sie folgen normalerweise ihren einstudierten Routen, folgen ihren eigens gelegten Duftspuren. Sie wissen, wohin sie wollen. Sie sind programmiert darauf, ihre Aufgabe zu erfüllen. Blindes Vertrauen in den eigenen Instinkt.

Mütter sind wie Ameisen. Würden sie ihrem Instinkt folgen, gingen sie automatisch die beste Route zu ihrem Ziel. Doch der Alltag, in dem sie sich wiederfinden, ist voll irritierender Düfte.

Eine Gesellschaft, die sagt: „Hol dir dein Recht auf Arbeit“, „Verwirkliche dich selbst“. Eine wirtschaftliche Realität, in der unterm Strich steht: „Du wirst arbeiten müssen, wenn die bezahlte Karenz aus ist“. Sozialer Druck: Wenn du ein Kind hast, musst du arbeiten, weil du „ja nur ein Kind!“ hast, wenn du zwei hast, wirst du nach einer extra Schonzeit regelmäßig gefragt: „Und? Du?“, „?“, „Was machst du so? Wann fängst du wieder zu arbeiten an?“ Ab dreien scheiden sich die Geister – ob du die Verpflichtung hast, wieder arbeiten zu gehen, weil du sonst ein Schmarotzer bist, oder ob du die Verpflichtung hast bei all den vielen Kindern zu bleiben, die du in die Welt gesetzt hast. Wenn du zu Hause bist, wirst du das Gefühl nicht los, dass man von dir erwartet, dass du „das bisschen Haushalt“ doch wirklich schaffen solltest. Oma hatte keinen Geschirrspüler, Mama hat ihren Trockner erst vor zehn Jahren bekommen und überhaupt „Hast du gehört [deine Schwester, deine Cousine, die Tochter der Arbeitskollegin, die 4 Jahre jünger ist als du und schon 3 Kinder hat, die Tochter der Freundin der Nachbarin] holt die Kinder zweimal die Woche nach dem Büro aus dem Kindergarten ab und macht Sport mit ihnen. Die schaut echt super aus.“ Und du schaust an dir runter und schämst dich – mit dem Gewand könntest du in kein Büro gehen und Sport mit den Kindern hast du noch nie in Erwägung gezogen, wann du es letzte Mal eine Woche lang geschafft hast, täglich 30 Sit-ups zu machen … du kannst dich nicht einmal daran erinnern.

Ich bin davon überzeugt, dass wir es objektiv betrachtet besser haben, als Vorgänger-Generationen.

Was die gesellschaftliche Akzeptanz der Entscheidung betrifft, Kinder zu haben oder eben auch nicht. Was die Möglichkeiten in puncto Kinderbetreuung beim Zurückkehren in einen Job anbelangt – egal ob er ein Mittel zum Zweck ist oder man ihn mit Leidenschaft ausübt … oder beides. Was Teilzeitmodelle im Job betrifft. Was 50:50 im Haushalt mit unseren Partnern betrifft. Vieles wurde auf gesellschaftlicher und sozialer Ebene (für uns) ausgehandelt und salonfähig gemacht.

Es geht uns gut. Das weiß ich, wenn ich mit meiner einzigen noch lebenden Oma rede und sie mir von ihrer Mutter erzählt – da gab es noch ganz andere politische Herausforderungen. Das ist mir bewusst, wenn sie mir aus ihrem eigenen Leben und den gesellschaftlichen Konventionen, mit denen sie konfrontiert war, erzählt und es ist mir auch bewusst, wenn ich Geschichten von Frauen meiner Elterngeneration höre, die nicht ansatzweise vergleichbare Kinderbetreuungsangebote vorfanden. Und meine Hoffnung ist es, dass es auch unseren Töchtern leichter gemacht wird, sie selbst zu sein, wenn sie an der Reihe sind, diese Entscheidungen zu treffen.

Aber was das Hier und Jetzt betrifft, liegt es an uns.

Wer viel Freiheit hat, muss auch viel entscheiden. Ich beklage mich nicht. Ich stelle fest.
Jede Generation hat ihre eigene Challenge zu bewältigen. Das ist unsere. Wir Millennials sind die Generation „Chance“, die Generation „Wahlfreiheit“, „Sicherheit“ und „Unabhängigkeit“ – und genau wir sind auch als die Generation der Entscheidungsunfreudigkeit verschrieen. Bis zum letzten Moment nicht zu Parties zusagen, nicht vor den Altar/den Standesbeamten treten, keine Verbindlichkeiten eingehen – es könnte ja noch was Besseres daherkommen. Ein anderes Angebot. Etwas, von dem wir uns mehr Erfüllung versprechen. Wir schauen über die Zäune in fremde Gärten und wollen den Garten genauso – aber nicht nur den wildromantischen Garten rechts, sondern auch den gepflegten Garten links und den Zen-Garten von vis-à-vis und den Spiel-Spaß-&-Action-Garten von schräg gegenüber.

Das betrifft uns Millennials alle – Männer und Frauen, mit oder ohne Kinder. Die Angst, sich falsch zu entscheiden, lähmt uns. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, beobachten wir gleichzeitig, wie alle anderen an uns vorbeiziehen – mit besseren Jobs, eigenen Häusern, musikalischeren/sportlicheren oder einfach auch nur mehr/weniger Kindern. Zuerst nur aus dem Augenwinkel und dann full-on mit der Social-Media-Lupe in totaler Vergrößerung quillt die vermeintliche Wahrheit über das perfekte Leben der anderen zähflüssig aus allen Tasten.

Dazwischen verbergen sich in meinem Feed Nachrichten aus Agentur-Job-Gruppen – gut bezahlte Jobs, regelmäßiges Einkommen, 40 Stunden. Wie soll ich das machen? Ich kann das zeitlich gar nicht! Aber was, wenn es mit der Selbstständigkeit in ein paar Jahren nicht mehr so läuft wie jetzt? Was ist, wenn wir das Geld dann brauchen? Eigentlich wäre auch jetzt ein zweites Fixeinkommen nicht schlecht. Aber ich will das doch gar nicht. Und ich kann das logistisch auch zur Zeit nicht. Oder ich will es nicht. Aber sollte ich es wollen? Was ist, wenn es mit 37 oder 38 nicht mehr so rennt wie jetzt? Wer will mich dann noch einstellen? Oder mit 45? Verbaue ich mir gerade alles?

Ab 14:30 Uhr bin ich für die Kinder da. Theoretisch. Denn an all zu vielen Nachmittagen kreisen meine Gedanken um all die Gespräche, die ich mit anderen Eltern führe und all die Posts, die ich bewusst oder am Rande von Bekannten, Freunden von Freunden und im Grunde Fremden verfolge: Ich denke an die Haushaltshilfe, die man sich leisten könnten sollte und auch daran, dass ich den ganzen Haushalt gerne selbst schaffen will; und zwar so perfekt, dass mich Spontanbesuche und Installateurtermine nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen können.

Ich denke an die Kindergeburtstagsparties, die man in professionellen Partylocations ausrichten lassen sollte. Die gigantischen Torten und Cake-Pops, die jeder zu backen scheint und sagt: „War ganz einfach.“
Ich denke an die Eltern, die ihre Kinder zu Nachmittagsaktivitäten begeistern – ein ganzes Semester lang! Und bei manchen sind es auch zwei oder drei verschiedene Kurse und Trainings.
Ich denke an die Mütter, die nach der Karenz in ihre Büros zurückgegangen sind. Ihre Kinder werden auch krank, aber sie machen das. Die können das.
Ich denke an meine Arbeit. An das, was ich geschafft habe und das, was liegen geblieben ist. An die E-Mail, die gerade eingetrudelt ist und eine dringende Antwort erfordert.
Ich denke daran, dass ich eigentlich seit Monaten einen Impftermin ausmachen sollte. Und eine Zahnarztkontrolle für mich. Den kleinen Lord sollte ich mitnehmen, der war ja überhaupt noch nie beim Zahnarzt – was für eine Mutter bin ich? Beim Orthopäden und beim Augenarzt waren wir auch schon ewig nicht.

Meine Gedanken beginnen mich zu stressen.

Die Kinder fragen nach Kakao, Jause, Naschen, Fernsehen. Sie verlangen. Sie wollen spielen. Unterschiedliche Spiele in unterschiedlichen Zimmern. Ich mache Jause. Äpfel und Osternestschokolade. Ich höre Schreie. Der kleine Lord sitzt unter der Reckstange der kleinen Lady. Sie schreit. Er lacht. Sie versucht ihn wegzuschieben. Er beißt sie. Jedenfalls werden sie es mir so unter Tränen und noch mehr Geschrei erzählen, wenn ich oben bei der Crime-Scene ankomme. Ich werde versuchen sie abzulenken. Den Kakao habe ich vergessen. Der kleine Lord nicht. Ich gehe in die Küche. Wieder Geschrei. Ich renne hinauf. Er hat eine Zeichnung von ihr zerfetzt. Ich schicke ihn in sein Zimmer. Ich bin eine „Gacki-Mama“ und wir sind „keine Freunde!“, was mir nachdrücklich mit Daumen runter gezeigt wird. Sie kriegt sich kaum mehr ein, fängt aber an zu zeichnen.

Ich gehe zu ihm, wir spielen Playmobil und mit den Autos. Die kleine Lady kommt in sein Zimmer: „Mama, das ist unfair! Du spielst nur mit [dem kleinen Lord]!“ Sein Dinosaurier will sie auffressen. Ich ermahne, werde ungehalten.
Ich will sie ablenken und auf den Spielplatz gehen, auch dort wollen sie vor allem mit mir spielen. Mama nicht teilen. Es gibt Tränen. Der kleine Lord brüllt: „Ich will zu meinem Papa.“

Was bin ich für eine Mutter?

Wie schlecht kann man seinen Haushalt eigentlich machen? Welchen Wert haben meine täglichen 5 Stunden Arbeit für die Arbeitswelt? Und wenn die Kinder frei haben oder krank sind: Bin ich die Einzige, die abends arbeitet? Wie soll ich Liebhaberin und Partnerin sein? Was bin ich für eine Freundin, wenn SMS-Antwort-Zeiten von 3 Tagen mehr die Regel als die Ausnahme sind? Von Anrufen und Rückrufen ganz zu schweigen.

Ich komme nie ansatzweise an den Maßstab, den ich mir zu erfüllen wünsche: Als Schwester, als Tochter, als Enkelin, als Mutter, als Ehefrau, als Arbeitende, als Bloggerin, als Hausfrau, als Hobby-Gärtnerin. Und bei all dem sollten auch meine adrett sitzenden Haare an meinem wenig, aber zum Vorteil geschminkten Gesicht herabfließen, die gepflegten Spitzen lägen auf meinem Biskotten-Flecken-freien, modischen, fair produzierten Bio-Baumwoll-Pulli auf und ich wäre entspannt und gelassen, wenn wir am Spielplatz sind. Denn eigentlich habe ich alles, was ich will. Und wenn die Anderen meinen Social-Media-Feeds folgen und vertrauen, müssten sie glauben, dass mein Leben perfekt ist.

So wie ich das gerne von anderen annehme.

Die Wahrheit ist, dass ich zerrissen bin. Ich bin eine Ameise. Würde ich meinem Instinkt folgen, ginge ich automatisch die beste Route zu meinem Ziel. Doch der Alltag, in dem sie sich die Ameise wiederfindet, ist voll irritierender Düfte. Rechts stößt sie sich am „Du solltest“-Lavendel, läuft sie nach links, ragt dort der „Das musst du. Ja, DAS musst du wirklich“-Lavendel in die Höhe. Versucht sie nach hinten zu fliehen, kommt sie zum Busch der Beobachtung, wie es die Anderen machen und rennt panisch in die andere Richtung, wo der Lavendel ihrer eigenen guten Vorsätze wächst.
Die Ameise ist eingekesselt, läuft im Kreis. Verliert die Orientierung.

Hoffnungslos.

Dann habe ich gegoogelt. Ameisen besitzen die Fähigkeit, aus der Verwirrung auszubrechen. Haben sie das geschafft, folgen sie wieder ihrem Instinkt, der sie an ihr eigenes Ziel führt.

Und das wünsche ich mir für uns alle.

 

 

Photo by Валерия on Unsplash

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2 Antworten

  1. Liebe Veronika, welch toller Text. Bei Lavendel werd ich zukünftig nun immer an dich denken. Und bei Ameisen. Das ist die Kraft, die wir Mütter brauchen und die Fähigkeit, uns vom regulären Umfeld zu lösen und den eigenen Weg zu finden, der uns gut tut 😘

    1. Danke liebe Miss Moinsen! Ich muss immer schmunzeln, wenn ich bei den drei Lavendelbüschen im Vorgarten vorbeigehe, weil sie mir bei jedem Rein- und Rausgehen aus dem Haus eine kleine Erinnerung geben, dass das mein Weg ist und es immer Ablenkungen geben wird, aber dass ich auch wissen darf, dass ich mich nicht zur geschäftigen Ameise machen lassen muss. Life is good.

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