Das Ablaufdatum von Kreativität

Menschen, in denen ein bisschen Künstlerseele wohnt, haben es schwer. Mit sich selbst. Wie man mit der Flüchtigkeit kreativer Gedanken umzugehen lernt.
Das Ablaufdatum von Kreativität: Die Angst vor dem blinkenden Cursor.

Jeden Tag schreibe ich. Auf Papier, auf dem Computer, auf die Rückseiten von Kuverts oder auf Ränder von Kassabelegen. Erinnerungen, Einkaufslisten, To-do-Listen. Telefonnummern, die ich noch brauchen könnte. Ideen, die ich gerne ausformulieren möchte. Sätze, mit denen die Kinder mich zum Lachen gebracht haben, die ich in ihre Erinnerungsbücher schreiben will. Fragen, die ich bei Interviews stellen möchte. Punkte, die ich unbedingt auf einer Liste ergänzen will, die ich in einer Mail an mich selbst im Postausgang speichere.

Wenn ich aufräume oder meine Tasche ausleere, muss ich jedes Stück Papier umdrehen, um zu sehen, ob sich darauf noch ein wichtiger Hinweis meines alten an mein zukünftiges Ich befindet.
Ich bin froh über jeden Zettel, der einfach nur ein Zettel ist – weniger Müll, von dem ich nicht einmal so genau sagen kann, wo man ihn am besten aufhebt, um ihn im richtigen Moment wieder hervorzaubern zu können.

Ich schreibe aber auch im Kopf. Abertausende Gedanken machen sich täglich auf den Weg, manche von ihnen sind nur auf der Durchreise. Sie durchzucken einen. Andere sind schwammig oder wirken bedrohlich. Es gibt solche, die diffus schwelen und andere, die man unentschlossen hin und her wälzt, ohne sie vernünftig zu bearbeiten – vielleicht weil man es schlichtweg noch gar nicht kann und trotzdem nicht die Kraft aufbringt, sie einfach sein zu lassen.
Andere wollen, ach sie wollen so unbedingt ausformuliert werden. Wenn da nur ein Zettel wäre oder ein Computer. Sie brennen Dir auf den Lippen. Du beginnst, den einen Gedanken von den anderen auszusondern. Versuchst, ihn zu fassen, als wäre er ein Wollfaden, den Du mit anderen Wörtern zusammen zu einer festen, gleichmäßigen Decke zu stricken beginnst. Dieser Anschlag! Er ist so perfekt. Du prägst ihn Dir ein. Du wirst ihn Dir merken. Du wiederholst ihn. Er ist ganz klar vor Deinem geistigen Auge, sodass Du ihn gar nicht mehr vergessen KANNST. Und wenn Du aus dem Auto aussteigst oder nicht mehr Kinder auf dem Klettergerüst absicherst, wirst Du Dir eine Erinnerung ins Handy speichern. Stichworte reichen. Wenn Du die Erinnerung siehst, wird sich der ganze, so einschneidende Gedanke wieder vor Dir entfalten.

Aber dazu kommt es nicht. Weil Du die Zeit nicht findest, Dir die Erinnerung einzuspeichern oder weil die Wortfetzen doch nicht ausreichen, um die für genial gehaltene Idee wieder an die Oberfläche zu befördern.

Ach, die Stunden, die ich schon vergeudet habe, den genialen Gedanken nachzujagen.  Es schmerzt richtig, etwas als verloren zu empfinden, das man doch nie besessen hat. Es macht mich unrund bis zum Gehtnichtmehr.
Mein Mann sagt, dass er diese Gefühle aus der Musik kennt und war gestern mein Spiegel, den er an meinen blinden Fleck gehalten hat: Ein Gedanke, der sich nicht festklammert, ist maximal nett. Er hat keinen bleibenden Wert. Ist nicht verwendetes Potenzial.
Genieß ihn, solange Du ihn hast. Find ihn neu, find ihn geil, find ihn weltbewegend. Und dann lass ihn gehen. Die Kreativität verlässt Dich nicht. Sie dreht eine Runde und kommt in dem Moment, in dem Du sie brauchst, in neuer Gestalt zu Dir zurück.

There’s a time and a place.
Lerne, Dich darauf zu verlassen.

Titelbild: pixabay | congerdesign

Erstveröffentlichung: 2016

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